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Buchtipp: Johann Hari – Stolen Focus: Warum wir nicht mehr konzentriert sein können

E-Mails, Social Media, Push-Nachrichten, Streaming: Unsere Aufmerksamkeit ist längst zur heiß umkämpften Ressource geworden. Johann Hari zeigt in „Stolen Focus“, warum es uns immer schwerer fällt, konzentriert zu arbeiten, zu lesen, zuzuhören, und welche Folgen das für Kommunikation und Gesellschaft hat.

Hari macht deutlich, dass der Verlust an Aufmerksamkeit nicht in erster Linie individuelles Versagen oder mangelnde Disziplin ist, sondern strukturell verursacht wird: durch Smartphones und digitale Plattformen, die unser Verhalten systematisch auf Ablenkung und kurze Reizreaktionen trimmen. Er verknüpft Forschung aus Psychologie, Neurowissenschaften und Soziologie mit zahlreichen Beispielen und beschreibt, wie ein gesellschaftlich virulentes Aufmerksamkeitsdefizit unsere gemeinsame Kommunikationsbasis, die Demokratie, unsere Kinder und die persönliche Lebensqualität bedroht.

Warum wir abdriften

Hari benennt zwölf Hauptursachen für den Aufmerksamkeitsverlust. Dazu zählen unter anderem: die permanente Unterbrechungskultur im Arbeitsleben, Algorithmen, die auf maximale Klicks und Verweildauer programmiert sind, die Verkürzung komplexer Inhalte in Social Media, aber auch Umweltfaktoren wie Schlafmangel, schlechtere Ernährung und ein beschleunigtes Lebenstempo.

Seine zentrale Botschaft: Aufmerksamkeit ist ein kollektives Gut. Wenn sie zerfällt, leidet die Fähigkeit ganzer Gesellschaften, komplexe Probleme zu verstehen und Lösungen zu entwickeln. Besonders ausführlich beschreibt Hari die demokratiepolitischen Konsequenzen dieser „gestohlenen Aufmerksamkeit“:

  • Polarisierung in Echokammern,
  • sinkende Lesekompetenz bei Jugendlichen,
  • ein öffentlicher Diskurs, der immer weniger Raum für Differenzierung zulässt.

Damit knüpft Hari an Debatten an, wie sie auch in der Kommunikationswissenschaft – etwa bei Bernhard Pörksen – geführt werden: Eine Gesellschaft ohne Zuhören und Konzentration verliert ihre Dialogfähigkeit, die Fähigkeit, wahr von falsch zu unterscheiden und Lösungen auszuhandeln, kurz: ihre Funktionsfähigkeit.

Flow statt Reizüberflutung

Im Kontrast zu B. F. Skinners Verhaltensmodell, das auf Reiz und Reaktion setzt, erinnert Hari an die Idee des „Flow“, wie sie Mihály Csíkszentmihályi beschrieben hat: Glück entsteht dort, wo wir uns einer Aufgabe so intensiv widmen, dass Zeit und Ablenkung verschwinden. Lesen als urtypische Beschäftigung der Konzentration und des Eintauchens in andere Rollen und Sichtweisen kann genau diesen Zustand ermöglichen. Dem gegenüber steht der fragmentierte Social-Media-Konsum, der uns in eine Endlosschleife kurzer Reize zwingt und echte Konzentration ebenso wie Empathie verhindert.

Wege aus der Aufmerksamkeitskrise

Hari zeigt, wie Plattformen wie Twitter, Facebook oder Instagram unsere Aufmerksamkeit systematisch fragmentieren: Inhalte werden in kleine, leicht konsumierbare Einheiten gepresst, die uns permanent neue Reize liefern – aber kaum Raum für Vertiefung lassen. Aufmerksamkeit wird so zu einer Ware, die zwischen Plattformen, Werbung und Konsumenten gehandelt wird.

Ein zentrales Gegenmotiv ist das Zuhören. Nicht nur das Aufnehmen von Informationen, sondern das echte Eingehen auf andere Perspektiven wird zur Praxis gegen eine Kultur ständiger Ablenkung. Zuhören erfordert Konzentration – und könnte damit zu einem Schlüssel gegen die Aufmerksamkeitskrise werden.

Hari bleibt nicht bei der Diagnose stehen. Er fordert ein Umdenken sowohl individuell als auch politisch. Dazu gehören: bewusster Umgang mit digitalen Medien, Regulierungen für Plattformen, die Aufmerksamkeit als Geschäftsmodell ausbeuten, mehr Räume für tiefe Arbeit, für Lesen und Gespräche. Seine Botschaft: Aufmerksamkeit ist nicht verloren, sie muss jedoch aktiv zurückerobert werden.

Pflichtlektüre für Kommunikationsprofis

Für alle, die in Kommunikation arbeiten, ist Stolen Focus ein Must-read. Es reicht nicht, Botschaften lediglich in einem „überfüllten“ Aufmerksamkeitsökosystem zu platzieren. Entscheidend ist, Kommunikationsräume zu schaffen, die Vertiefung, Dialog und aktives Zuhören ermöglichen. Wer in Unternehmen, Organisationen oder Institutionen Verantwortung trägt, sollte verstehen: Aufmerksamkeit ist nicht nur begrenzt, sondern auch gestaltbar.

Hari erinnert uns daran, dass Kommunikation mehr ist als das Senden von Informationen. Sie lebt von Strukturen, die konzentrierte Auseinandersetzung erlauben. Ob in Meetings, im Stakeholder-Dialog oder in der öffentlichen Debatte: Nur wenn Räume für echtes Zuhören geschaffen werden, entstehen Vertrauen, Glaubwürdigkeit und die Chance auf gemeinsame Lösungen.

Hari, J. (2022). Stolen Focus: Warum wir nicht mehr konzentriert sein können. S. Fischer Verlag.